Während beim "klassischen" Ritz-Verfahren die Ansatzfunktionen für das gesamte Gebiet des zu untersuchenden Bauteils formuliert werden, wird bei der Finite-Elemente-Methode jeweils ein Ritz-Ansatz für die Verschiebungen eines Teilgebiets (finites Element) formuliert. Dabei ergibt sich das Problem, dass die Verschiebungen an den Grenzen der Elemente natürlich mit denen der Nachbarelemente kompatibel sein müssen.
Dies wird mit einem besonders eleganten "Trick" erreicht: Als Freiwerte des Verschiebungsansatzes (beim klassischen Ritz-Verfahren die ai) werden die Verschiebungen an den Knoten, an denen benachbarte Elemente Kontakt haben, verwendet. Dann ist an diesen Knoten automatisch die Kompatibilität der Verschiebungen benachbarter Elemente gesichert. Man muss allerdings darauf achten, dass die Ansatzfunktionen so beschaffen sind, dass die Verschiebungskompatibilität an den Knoten automatisch die Kompatibilität an der gesamten Grenzfläche benachbarter Elemente sicherstellt.
Betrachtet wird der allgemeine zwei- oder dreidimensionale elastische Körper, für den das Prinzip vom Minimum des elastischen Potentials so formuliert werden kann:
Darin ist e der Vektor der Verzerrungen (Dehnungen und Gleitungen), s der Vektor der Spannungen (Normal- und Schubspannungen), v ist der Vektor der Verschiebungen, p der Vektor der volumenbezogenen Belastung (z. B.: Eigengewicht, Fliehkraft), q der Vektor der Oberflächenlasten (z. B.: Druck).
Zunächst wird nur ein finites Element betrachtet. Es soll nk Knoten haben, die Knoten haben kf Knotenfreiheitsgrade (Verschiebungskomponenten, kf braucht nicht für alle Knoten gleich zu sein), insgesamt möge das Element nf Freiheitsgrade haben. Für das Element ist nun ein Ansatz für das Verschiebungsfeld in der Form
erforderlich ist (bezogen auf ein elementeigenes Koordinatensystem). In ve sind alle nf Verschiebungen an allen Knoten des Elements zusammengefasst (Elementverschiebungsvektor), und weil das Verschiebungsfeld für alle Punkte des Elements (auch für die Knoten) gilt, muss die Matrix der Ansatzfunktionen G so beschaffen sein, dass beim Einsetzen der Koordinaten eines Knotens das Produkt Gve den entsprechenden Knotenverschiebungsvektor ergibt.
Gelingt es nicht, eine solche Matrix aufzuschreiben, so kann zunächst ein Verschiebungsansatz
mit allgemeinen Freiwerten ai gewählt werden (die Anzahl der Freiwerte und damit die Anzahl der Spalten von N müssen mit der Anzahl der Freiheitsgrade nf des Elements übereinstimmen). Der Elementverschiebungsvektor kann nun durch Einsetzen der Koordinaten der einzelnen Knoten folgendermaßen aufgeschrieben werden:
Die Matrix A enthält ausschließlich Knotenkoordinaten. Mit ihrer Inversen können die allgemeinen Ansatzparameter entsprechend
durch die Knotenverschiebungen ersetzt werden. Damit kann der allgemeine Ansatz in der Form
geschrieben werden, und daraus liest man die Matrix der Ansatzfunktionen
ab, die die eingangs gestellte Forderung nach der Verknüpfung der Elementknotenverschiebungen mit dem Verschiebungsfeld im Inneren des Elements
erfüllt.
Die elastischen Verzerrungen e in der Formel des elastischen Potentials sind mit den Verschiebungen durch eine Beziehung
verknüpft. Hierin ist D ein Matrixdifferenzialoperator. Einsetzen des Verschiebungsansatzes ergibt:
mit
Die Spannungen s in der Formel des elastischen Potentials sind mit elastischen Verzerrungen über ein Stoffgesetz (z. B. das Hookesche Gesetz) verknüpft:
(an die Stelle der Spannungen können auch Schnittgrößen treten - Kirschoffsche Plattentheorie, Bernoullische Biegetheorie, ... -, dann repräsentiert H deren Zusammenhang mit den Krümmungen).
Mit
kann der Anteil eines einzelnen finiten Elements am elastischen Potential so formuliert werden (man beachte, dass sich beim Transponieren eines Produkts die Reihenfolge der Faktoren umkehrt):
Die Knotenverschiebungsvektoren können aus den Integralen herausgezogen werden, für die verbleibenden Integrale werden sinnvolle Abkürzungen eingeführt:
mit der sogenannten Elementsteifigkeitsmatrix
und dem Elementbelastungsvektor infolge der Volumen- und Oberflächenlasten
Das gesamte elastische Potential ergibt sich aus der Summierung der Potentiale aller Elemente:
(hier nur angedeutet mit den beiden Elementen e und f).
Zur Erinnerung: Dies ist (nach einer etwas aufwändigen Zwischenrechnung) das Gesamtpotential, aufgeschrieben mit Ritzschen Ansatzfunktionen. Diese sind über die Integralausdrücke in die Elementsteifigkeitsmatrizen und die Elementbelastungsvektoren eingeflossen, während die Ritzschen Ansatzparamter als Knotenverschiebungen (z. B. in ve und vf) in separaten Vektoren konzentriert sind.
Die Ansatzparameter (Knotenverschiebungen) werden nun nach der Vorschrift von Ritz durch das Nullsetzen der partiellen Ableitungen des Gesamtpotentials nach den Ansatzparametern bestimmt. Dies kann als Ableitung nach dem Vektor v, in dem alle Knotenverschiebungen aller Knoten des Gesamtsystems enthalten sind, so formuliert werden (hier findet man die Ableitungsregeln für diese Matrix-Vektor-Produkte):
Dies ist ein großes lineares Gleichungssystem
mit der so genannten Systemsteifigkeitsmatrix K und dem Systembelastungsvektor f (eventuell an den Knoten angreifende äußere diskrete Lasten dürfen auf die entsprechenden Positionen in f einfach aufaddiert werden).
Dabei kann in doppelter Hinsicht ausgenutzt werden werden, dass bei der partiellen Ableitung nach einer Knotenverschiebung nur wenige Elemente betroffen sind (genau die, die an diesem Knoten angeschlossen sind). Einerseits führt dies auf eine nur dünn mit von Null verschiedenen Elementen besetzte Koeffizientenmatrix des großen Gleichungssystems, was bei der Lösung mit Vorteil genutzt werden kann. Andererseits bietet es sich an, zunächst nur zu untersuchen, welchen Anteil eine Elementsteifigkeitsbeziehung bei der Ableitung nach den Knotenverschiebungen der eigenen Knoten liefert, um dann danach die Anteile der anderen Elemente zu addieren.
Die Ableitung des Gesamtpotentials nach den in ve zusammengefassten Knotenverschiebungen des Elementse entsprechend
liefert die so genannte Elementsteifigkeitsbeziehung
die aus der oben genannten Systemsteifigkeitsbeziehung nur jeweils einen Anteil zu einigen Gleichungen liefert. Alle Elementsteifigkeitsmatrizen zusammen ergeben die Systemsteifigkeitsbeziehung, wenn die Anteile, die in K bzw. f auf die gleichen Positionen fallen, addiert werden. Diese "Einspeicherungsstrategie" entspricht genau dem Algorithmus, der im Kapitel "Der Stab als finites Element" des Lehrbuchs "Dankert/Dankert: Technische Mechanik" am einfachen Beispiel anschaulich hergeleitet wird.
Es ist sinnvoll, den Weg bis zur Systemsteifigkeitsbeziehung zunächst formal so zu gehen, wie es hier beschrieben wurde. Es muss deshalb vermerkt werden, dass der Vorteil, für alle Elemente die gleichen Ansatzfunktionen zu verwenden, mit einem Verstoß gegen die Regeln des Ritzschen Verfahrens erkauft wurde, denn zulässige Vergleichsfunktionen müssen die geometrischen Randbedingungen erfüllen. Das ist zumindest für die Knoten nicht eingehalten worden, die durch starre Lager gebunden sind.
Aber dieser eindeutige Regelverstoß kann nachträglich geheilt werden, weil die Ansatzparameter ja die in der Systemsteifigkeitsbeziehung noch sichtbaren Knotenverschiebungen sind. Wenn in
nachträglich alle verhinderten Verschiebungen Null gesetzt werden, dann ist das gleichwertig mit dem nach Ritz korrekten Vorgehen, weil damit genau die Ansatzfunktionen, die mit diesen Ansatzparametern verknüpft waren, ihren Einfluss auf das Ergebnis verlieren.
Das Nullsetzen bestimmter Verschiebungen in der Systemsteifigkeitsbeziehung sollte in jedem Fall so realisiert werden, dass die Symmetrie der Matrix K erhalten bleibt. Dies kann z. B. durch das auf der Seite "FEM-Algorithmus: Beispiel Biegeträger" demonstrierte "Zeilen-Spalten-Streichen" erreicht werden. Die dabei herausgenommenen Gleichungen enthalten auf der rechten Seite eine Unbekannte in f (Lagerreaktion), die nach Berechnung aller Verschiebungen mit Hilfe dieser Gleichung berechnet werden kann.
Es soll noch angemerkt werden, dass vor dem Einarbeiten der verhinderten Verschiebungen das Gleichungssystem ohnehin nicht gelöst werden kann, weil die Systemsteifigkeitsmatrix singulär ist.
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